Kulturelle Aneignung als Tauschbörse
Jamaikanische Commonwealth-Kinder spielen Reggae, die Bleichgesichter des kulturell vereinigten Europa ihren Folk oder Rock. Alles Quatsch, wie unsere beiden Montags-Sound-Maler grandios vorführen: Edward II aus dem Manchester verbinden Folklore durch Sax & Melodeon mit Calypso und dem Ska-Vorläufer Mento, während die Londonerin Shirley Davis sich trotz karibischer Eltern keinem Reggae, sondern Memphis-Soul verschreibt – nicht etwa mit einer Band aus Spanish Harlem, sondern aus Spanish Madrid. Unsere Seele diktiert die Wahl der Instrumente und Genres - statt Genen, Herkunft, Klischees.
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Edward II – Industrie-Protest als lyrische Tanzparty-Anreicherung
In Oktett-Stärke eröffnen die nach einem frühen englischen König und ersten Prince of Wales benannten Folk-Reggae-Groover das Festival 2023. Zum Rhythmus-Tandem: ausgeschlafener Tee Carthy (b) und sensibler Berserker David Henry (dr), huldigen gleich drei Gitarristen dem Offbeat. Axt-As Jon Moore: „Die Kunst liegt darin, Subtiles zu liefern, ohne den anderen in die Quere zu kommen.“ Wobei Drittgitarrist John Hart gekonnt an der Posaune doubelt.
“Swing Easy“: Soundbestimmend Bandleader Gavin Sharp am Baritone-Sax mit Melodeon-Spieler Simon Care, Folkfans von der Albion Band her bekannt. Ihr schlacksig-charmanter Frontmann Glenford Latouche hat die Menge sofort in der Hand, verspricht DANCING TUNES vom aktuellen Album, mit dem sich Edward II der kreativen Interpretation von Traditionals widmen: “Linstead Market“ über eine erfolglose Marktfrau und Mutter oder die Boy-meets-Girl-Story “Long Time Gal“. Hier leitet der einfühlsame Elston McKenzie die Gitarren-Verzahnungen. Erste Tanzende wagen sich auf die Rasenfläche vor der Bühne.
Aber es geht nicht nur um romantischen Tropenzauber – die Edwards kommentieren mit knallharten Polit-Thrillern das Industriezeitalter – aus ihrer Comeback-CD MANCHESTER’S IMPROVING DAILY von 2015 stammen “Rag Bag“ über einen Problem-Landlord und “Dirty Old Town“ zu den alten Gaswerken ihrer Stadt.
Doch Party hat Vorrang. Ein alter haitianischer Song, “Choucune“, wurde als “Yellow Bird“ zum Evergreen – hier verführend langsam, mit Jon Moores sensiblem Gitarren-Intro und Refrain zum Niederknien. “Banana Boat Song“ samt dreistimmigem Satzgesang und cleveren Breaks; Gregory Iassacs‘ “Night Nurse“ als ultimativer Ohrwurm.
“Dashing Away“ vom frühen Album WICKED MAN frappiert neben fettem Groove mit einer Sidestep-Choreographie, die neben rhythmischer Präzision zum Schreien komisch wirkt. Ins Instrumental “Brilliant Pebbles“ baut Simon Care am Knopf-Akkordeon „Mein Vater war ein Wandersmann“ ein, ehe das von Maxi Priest bekannte “Life“ als grandioses Finale dient. Reggae-Folk – das ist hier kein Gimmick, sondern verzahnte Stilistik mit Herzblut!
Shirley Davis & Silverbacks – Herzerweichende Stimmgewalt trifft Groove-Alarm
Sax & Trompete: Bläserherrlichkeit, Hammond, einfühlsamer Maschinenraum und eine Steve-Cropper-Gitarre huldigen à la Bar-Keys und Mar-Keys dem Soul-Idiom der 1960er Stax-Jahre, bereiten sich darauf vor, Shirley Davis zu umschmeicheln: „Are you ready for the Queen of Soul?“ fragt Gitarrist Edu “Golden Boy“ Martinez.
Ist die kleine, gigantische Lady erst mit Wärme- und Power-getränkter Stimme an Bord, möchte man von geradezu schlafwandlerischer Sicherheit schwärmen. Indes, kleine Break-Tupfer, also minimales Innehalten von der Länge eines einzigen Taktschlages beweisen oft, dass ihre Silverbacks als Fundament der Vokalgewalt jedes Gimmick locker parieren können.
Davis‘ Gospel-getränkte, dabei Funk-fest klare Aufmerksamkeit heischende Diktion passt zum 6/8-Blues samt weicher Bläserstütze ebenso wie zur dramatischen Inszenierung von “We The People“ oder dem frechen “Culture or Vulture“ mit irrem Bass-Untergrund, für das die in einen edlen japanischen Kimono Gekleidete uns anspruchsvolles Hand-Clapping beibringt. “Two Worlds“ zieht das Tempo an, Staccato-Gebläse zu ruhiger Orgel heizen die 3-Ecks-Menge auf.
Für den Titelsong ihrer aktuellen Platte KEEP ON KEEPING ON holt Frau Davis drei Tänzer auf die Bretter, die ihrem Funk mit grandiosen Gesten zwischen Dschungel und Fantastischen Vier den angemessenen Tribut zollen. Einen Höhepunkt bietet “Darker Than Blue“ – eine langsame Curtis-Mayfield-Ballade, welche Shirley Davis von der kürzlich verstorbenen Sinéad O‘Connor schätzt, inniglich zelebriert und auf halber Strecke mit einer rasend funkigen, ansteckenden Passage veredelt. „You better dance your asses off!” empfiehlt die Boss-Lady den westfälischen Massen für “Take Me Home” – Tänzer und Beobachter werden mit starkem Hammondsolo von Chavi Ontoria belohnt.
Nirgendwo werden die Tanzgelüste des 3-Ecks-Publikums besser von den Stühlen gelockt als beim Up-Tempo-Abfeiern von “Take Out The Trash“, dessen hypnotisierender Chorus durch die Trompete und Saxophon-Breitseiten der Silverbacks gespiegelt wird. Was die Soft-Funk-Zugabe „The Rose“ noch einmal bestätigt. Memphis‘ Beale Street? Nein, Königstraße!
Uli Twelker für die Kulturgemeinschaft Dreiecksplatz