Die Woche startet normal: Spektakulär!
Voyager IV und Kraan: Musikalische Ausrufezeichen der Sonderklasse gleich am ersten Tag der verkürzten „Woche“ im Corona-Style – wahre Benchmarks für den Rest der Tage, aber wem’s am
musikalischen Vertrauen fehlt, sich auf dem Dreiecksplatz mit dem CovPass fürs grüne Armbändchen anzustellen, gehört eh in die Notaufnahme. Die Orga ist perfekt, alles safe hier, Musik pur –
konzertantes Sondervergnügen ohne Gebrummel rechts und links. Hört mal hin!
Copyright MPRESS Peter Heermann
Voyager IV
Die ursprünglich von Modest Mussorgski 1874 in einem Klavierzyklus vertonten „Bilder einer Ausstellung“ gehören als ursprüngliches Notenmaterial zu den Schatzkisten der modernen Musikwelt, aus
denen sich Generationen mit Lust bedienen und woraus die schönsten Geschichten entstehen. Vor genau 50 Jahren, 1971, landeten Emerson, Lake und Palmer mit einer freien Bearbeitung von Teilen des
Mussorgski-Werks – gedreht, gewendet und auf den „Kopf gestellt“ (Keith Emerson) – einen Sensationserfolg und gaben die Vorlage für viele Adaptionen mit unterschiedlichsten Instrumentierungen,
bis hin zum Blechbläserquintett. Einen Meilenstein landete 2017 der international bekannte Pianist und Keyborder Markus Schinkel mit seinem Trio aus Fritz Roppel (Gitarre) und Wim de Vries
(Schlagzeug) und dem Sänger und Komponisten Johannes Kuchta. „Voyager IV“ war geboren und jetzt sind wir auf der gestrigen Bühne des Dreiecksplatzes und erleben eine Hommage an Mussorgski und ELP
in einer atemberaubenden Mischung aus Klassik, Jazz und Popelementen der höheren Liga. Dazu furchtloser Einsatz ungewöhnlichster Instrumente (Dreiecksplatz proudly presents: Musik aus Licht – die
Lichtharfe!) und vor allem: perfektes Spiel. Die Band, die mit diesem „Pictures at an Exhibition“-Projekt ihre 2021er-Tournee finalisierte, strotzt nur so von Können, Intuition, Kreativität und
Kraft. Schinkel liebt das Wechselspiel von Piano, Synth, dem Umhängekeyboard Keytar mit Zappa-esker Konfettikanone oder dem Theremin), erweist den Großen dieses Genres seine Referenz (erwähnt
hier Joe Zawinul), verzichtet aber auf die Bombastik des Emerson-Spiels in Stücken wie Baba Yaga oder Photophobia. Die Band entwickelt aus den Motiven des Originals auch eigenständige
Vokalnummern, spielt dazu Songs von Greg Lake wie das großartige „Take a pebble“, in das Markus Schinkel in einem längeren Solo allerlei musikalische Zitate einflechtet („Take Five“ freut ja
immer) oder „Sage“, wo Fritz Roppel ein solches Können an der Gitarre ausbreitet, dass es den vollen Dreiecksplatz schier von den Bänken reißt. Beeindruckend die Interpretation des wohl
berühmtesten ELP-Stücks: Lucky man. Sänger Johannes Kochta entkleidet es von der Pop-Gefälligkeit, lotet den ernsten Hintergrund mit dramatischer Stimme aus, erfindet das Stück, das Greg Lake
bereits mit 12 Jahren schrieb, neu. Ein Meisterwerk. Dann noch Daedalus calling von Mussorgski in ELP-Anlehnung und wie ein Dankeschön an das Gütersloher Publikum ganz zum Schluss, ebenfalls
nicht zum Bilder-Zyklus gehörend: „I talk to the wind“ von King Crimson. Wow!
Kraan
Die Woche der kleinen Künste ist immer wieder eine Bühne für Legenden. Mit Kraan stand gestern Abend ein besonderes Stück Musikgeschichte auf der Bühne und wieder spielte die „50“ eine Rolle:
Damals,1971, zu Can- und Amon Düül-Zeiten, mixten der abgebrochene Abiturient Hellmut Hattler und drei Studenten aus Ulm unbeschwert und wild entschlossen, was ihnen gefiel zwischen Rock und Jazz
und Funk. Schnell wurden sie entdeckt und ihnen hätte wohl eine Weltkarriere offen gestanden, wenn sie sich hätten korrumpieren lassen. Aber so waren sie nicht, die Subkulturzeiten und das war
gut so: Kraan ist bis heute eine Marke. Ein stand-alone-Monolith. Besetzungen wechselten, die Ur-Kraaniche fanden sich immer wieder zusammen und als gestern Bass-Mann Hellmut Hattler mit den
Brüdern Jan Fride (Schlagzeug) und Peter Wolbrandt (Gitarre) vor den über 700 Musikfans auftraten, war’s wie ein Klassentreffen. Aber 50 Jahre später. Und wie neu. Wer erwartet hatte, dass Kraan
wie eine lebende Jukebox Ohren und Hirn der Zuhörer mit Hits der frühen Jahre, gepaart mit neuem Material aus dem 2020er-Spätwerkalbum „Sandglass“, bedienen würde, lag nur bedingt richtig. Der
saustarke Groove der Band mit den typischen fetten Linien des Ausnahme-Bassisten Hellmut Hattler, den wunderschönen Melodiefolgen des absoluten Spitzengitarristen Peter Wolbrandt und der
Trommelkunst seines Bruders Jan Fride ist ein immer wieder neu aufbereiteter Leckerbissen für Freunde des experimentellen Jazz-Rock. Die Spiellust der Ex-Kommunarden zeigt sich dabei im kreativen
Zusammenspiel und wenn Hellmut Hattler seinen Bass zur Melodie-Gitarre macht, zeigt er schlicht gereifte Kunst. Souverän bearbeitet: „Andy Nogger“, ein Glanzstück: „Pick Peat“, ein Gitarrenbattle
vom Allerfeinsten: „Dinner for two“! Natürlich fehlte auch nicht das grandiose „Holiday am Marterhorn“ und der Stones-ähnliche Anfangsriff von „Jerk of Live“ mit dem Kurzgesang von Hellmut
Hattler und Peter Wolbrandt klingt noch heute im Ohr. Danke, Kraan!
Heiner Wichelmann für die Kulturgemeinschaft Dreiecksplatz